Ausgebrannt


Warum muss man Mitarbeitern immer das Wochenende versauen?
„Ihr könnt mich alle mal gern' haben! Mir reicht's!" Genervt hämmert Viola auf ihre Tastatur ein. So wütend hat sie sich schon ewig nicht mehr erlebt. Bisher gab es nicht viele Menschen, die es geschafft haben, dass sie ihre Beherrschung vollkommen verloren hatte. Ein Wort noch und Viola könnte glatt zum Mörder werden. Wie gut, dass sie heute schon die Post bearbeitet hat, sonst hätte sie wohl möglich mit dem Brieföffner ein Blutbad angerichtet. ‚Was denkt sich diese blöde Ziege eigentlich?'
Letzte Woche hatte sich Viola mit einer fetten Grippe zur Arbeit geschleppt, da ihre Kollegin bereits erkrankt war. Sie wollte die Abteilung nicht unbesetzt lassen. Als Dank dafür wurde ihr gerade eine Abmahnung überreicht. „So ein Fehler darf nicht passieren, Frau Bauer", ermahnte die Chefin.
Als Viola auf ihren unermüdlichen Einsatz hinwies und dass sie trotz Grippe die Abteilung aufrecht halten wollte, bekam sie den nächsten Dämpfer. „Wenn sie krank waren, hätten sie zu Hause bleiben sollen, falscher Ehrgeiz schadet dem Unternehmen nur, wie sie sehen", die Chefin rückte ihre Brille etwas weiter auf die Nasenspitze und warf Viola einen vorwurfsvollen Blick entgegen.


***


Es ist so einfach, die Kollegen nach Hause zu schicken, wenn diese mal nicht ganz so fit sind.
„Nu geh' endlich, das hat doch keinen Sinn!"
„Du hast nur die eine Gesundheit!"
„Wenn Fehler passieren, dankt dir das eh keiner!"
Wahre Worte, vielleicht sollte sie zukünftig darauf achten, dass sie sich selbst treu bleibt und ihre eigenen Ratschläge beherzigt. Allmählich richtet sich Violas Wut gegen ihre eigene Person. Wie konnte sie auch nur so blöd sein. Im Prinzip hat die Chefin ja recht, gesteht sie sich widerwillig ein und würde sich am liebsten selber in den Allerwertesten treten. Nachdem sie sich etwas beruhigt hat, sucht sie nochmal ihre Chefin auf.
„Frau Reuter, hätten sie einen Augenblick für mich?" Leicht genervt stößt die Leiterin der Vertragsabteilung Luft aus ihren Lungen. Sie hasst es, solche Gespräche führen zu müssen, doch leider gehört auch so etwas zu ihrem Job. Frau Karin Reuter ist Mitte fünfzig und war mal kurz davor ein echter Workaholic zu werden, doch eine Krankheit hatte sie damals ausgebremst. Sie kann Viola gut verstehen und weiß, dass sie es nur gut gemeint hat, doch wenn diese junge Frau nicht besser auf sich aufpasst, wird sie eines Tages zusammenbrechen und damit ist keinem gedient.
„Was gibt's denn noch, Frau Bauer?", mit einer Handbewegung fordert sie Viola auf, Platz zu nehmen.
„Wie sie ja wissen", beginnt die junge Frau zögerlich, ja fast ängstlich, „habe ich noch zwei Wochen alten Urlaub übrig." Frau Reuter schaut über ihren Brillenrand hinweg auf ihre Mitarbeiterin und lässt ein langgezogenes, fragend klingendes Ja ertönen, während Viola unbehaglich auf dem Stuhl hin und her rutscht. „Wäre es möglich, dass ich den ab Montag nehmen könnte? Ich glaube ich brauche eine Auszeit." Violas Blick senkt sich nach unten. Sie schämt sich ein wenig. Schwächen zuzugeben ist nicht einfach.
„Ich denke auch, dass ihnen etwas Ruhe gut tun würde. Es liegen anstrengende Wochen hinter uns. Bringen sie mir bitte gleich den ausgefüllten Urlaubsantrag rein und dann machen sie Feierabend."
„Danke", Viola erhebt sich und wendet sich zum Gehen, „Es tut mir leid, dass mir so ein dummer Fehler unterlaufen ist."
„Frau Bauer?"
„Ja?"
„Ach, nichts weiter. Ich wünsche Ihnen schon mal einen schönen Urlaub."
„Danke"


Gerne hätte Frau Reuter von ihren eigenen Erfahrungen erzählt, davon dass sie die junge Frau gut verstehen kann und weiß was es für ein saublödes Gefühl ist eine Abmahnung zu erhalten. Würde ihr gerne sagen, dass man nur die eine Gesundheit hat und diese unbedingt schützen sollte. Aber hätte sie damit nicht ihre Integrität als Vorgesetzte aufs Spiel gesetzt? Würde sie mit solchen Äußerungen die Mitarbeiter dazu auffordern „blau" zu machen?
Am Wochenende wird sie mal darüber nachdenken. Wenn die Firma besser auf ihre Mitarbeiter achten würde, gäbe es vielleicht nicht einen so hohen Krankenstand mit Langzeiterkrankungen, wie zum Beispiel Burnout. Sie wird ihre Gedanken zu Papier bringen und Verbesserungsvorschläge erarbeiten, die sie bei der nächsten Abteilungsleitersitzung vortragen wird. Mal schauen was passiert…!